Zum ersten Mal findet die Welt-Aidskonferenz in Lateinamerika statt - in Mexiko. Das Land weiß zu wenig über die Seuche
Klaus EhringfeldMEXIKO-STADT. Sechs Mal in der Woche tauscht Polo Gómez T-Shirt gegen Paillettenkleid und Baseballmütze gegen Kopfschmuck aus bunten Kunstfedern. Dann zieht der schlanke 44-Jährige die Turnschuhe aus und schlüpft in Schnürstiefel mit schwindelerregend hohen Absätzen, ersetzt seine goldfarbenen Ohrringe durch Anhänger, an denen Kondompäckchen baumeln. Zuletzt legt er glitzerndes Blau auf Lippen und Augen. Dann lacht Polo breit, wirft sich in Pose und sagt: "Gestatten, mein Name ist Yolanda."
Sechs Mal pro Woche wird aus Polo, dem Aids-Aktivisten Yolanda, die Drag Queen mit Mission. Seit zehn Jahren ist sie in ganz Mexiko im Auftrag der Aids-Prävention unterwegs. Mit dem "Condomóvil", einem alten Nissan-Van, tourt Yolanda mit Kolleginnen durch Städte und über die Dörfer und erläutert Jugendlichen an Schulen, Universitäten und auf Märkten, wie wichtig sicherer Sex ist. "In den großen Städten sind die Kenntnisse eigentlich recht gut", sagt Yolanda. Aber vor allem auf dem Land wissen die Menschen oft nichts über die Epidemie, an der weltweit 33 Millionen Menschen erkrankt sind.
Aufklärendes Straßentheater
Laut offiziellen Statistiken ist HIV/Aids in Mexiko wie in den meisten Teilen Lateinamerikas unter Kontrolle. Mit einer Neuansteckungsrate von 0,3 Prozent liegt Mexiko sogar leicht unter dem globalen Mittel. Die Dunkelziffer schätzen Aids-Aktivisten wie Polo allerdings viermal höher. Vor allem in Mexiko, aber auch in anderen Staaten der Region, konzentriert sich die Infektion zunehmend auf Risiko-Gruppen wie Wanderarbeiter und homosexuelle Männer. Hier ist die Zahl derer, die sich neu anstecken alarmierend hoch.
Am vergangenen Sonnabend, eine Woche vor Beginn der 17. Welt-Aidskonferenz in Mexiko-Stadt, sind Yolanda und ihre Mitstreiterinnen Penny, Wica und Britney im Herzen der Metropole unterwegs. Es ist angenehm kühl. Auf der Prachtstraße Reforma, nahe dem bekannten Engel-Monument, haben sie Gummi-Penisse, Latexhandschuhe und Stapel von Kondomen auf einem Klapptisch zurechtgelegt.
Es folgt eine Mischung aus Straßentheater und Aufklärungsstunde. Mit Zoten und doppeldeutigen Witzen stimmt Yolanda das Publikum ein und sucht einen Freiwilligen für die Vorführung des Kondomgebrauchs. Omar, 25, untersetzt, wird rücklings auf den Klapptisch gelegt, und Britney postiert einen roten Gummi-Penis auf den Unterleib, während Yolanda bei den Zuschauern das Wissen über Safer Sex testet. "Wir hören noch immer, dass Aids durch einen Mückenstich oder das Handgeben übertragen wird", sagt Yolanda später und zieht die Augenbrauen hoch.
Seit 1988 arbeitet Yolanda bei Colectivo Sol, einer der ältesten von 30 Nichtregierungsorganisationen, die sich in Mexiko dem Kampf gegen die Epidemie widmen. "Aber eigentlich bin ich mein Leben lang Aktivist gewesen." Praktisch mit dem Auftreten der ersten Aids-Fälle in Mexiko 1983 hat sich die Drag Queen für Aufklärung und gegen Diskriminierung eingesetzt.
In Lateinamerika sind rund 1,7 Millionen Menschen mit dem Immunschwächevirus infiziert, alleine ein Drittel davon in Brasilien, dem bevölkerungsreichsten Land. Statistisch sprengt aber die Karibik den Rahmen. 230 000 Infizierte, vor allem in Haiti und der Dominikanischen Republik, machen die Region zur am stärksten betroffenen Region nach Afrika.
Für den Chef des Mexikanischen Zentrums für HIV/Aids-Prävention und Kontrolle (Censida), Jorge Saavedra, ist es daher höchste Zeit, dass die Aids-Konferenz in Lateinamerika stattfindet. Die Internationale Aids-Gemeinschaft habe die Region lange ausgeblendet, kritisiert der Experte.
Besonders ärmere Staaten wie Mexiko und die Länder Mittelamerikas bekämen zudem die Nachteile der Migration zu spüren. Männer, die als Zeitarbeiter in die USA oder große Städte gehen, bringen oft den Virus mit nach Hause und stecken ihre Frauen an. In Mexiko steigen laut UN-Aids vor allem in den Grenzstädten zu den USA die HIV-Infektionen durch männliche Gelegenheitsprostitution. "Die Konferenz ist die große Chance darauf aufmerksam zu machen, was in Lateinamerika passiert", betont Censida-Chef Saavedra.
Hauptanliegen der 17. Weltaids-Konferenz ist es, einem universellen Zugang für alle Infizierten zu Prävention, Behandlung und Betreuung näher zu kommen. Fast 30 Jahre nach dem Auftreten des ersten Falls, wird weltweit bisher nur jeder dritte Patient behandelt. "Die Aufgabe von ,Aids 2008´ ist es, allen Beteiligten auf internationaler, nationaler und lokaler Ebene klar zu machen, dass das umgehend besser werden muss", sagt Pedro Cahn, Präsident der Konferenz.
Wie das erreicht werden soll, darüber diskutieren von Sonntag bis Freitag rund 2 000 Forscher, Ärzte, Politiker und Aids-Aktivisten. Es scheint umso dringender, die Themen Vorbeugung und Behandlung zu diskutieren, weil die erhoffte Entwicklung eines Impfstoffs gegen Aids nach diversen Rückschlägen in weite Ferne gerückt ist.
Mexiko präsentiert sich offiziell als vorbildlicher Gastgeber. "Wir geben allein für Medikamente im Jahr 300 Millionen Dollar aus", betont Censida-Chef Saavedra. "Das ist so viel wie die gesamten Entwicklungs- und Schwellenländer weltweit vor zehn Jahren in den Kampf gegen die Krankheit investiert haben." Laut Saavedra ist in Mexiko der universelle Zugang aller Infizierten zu Medikamenten bereits erreicht: "Wir versorgen alle 47 000 registrierten HIV/Aids-Patienten kostenlos mit den notwendigen anti-retroviralen Medikamenten in staatlichen klinischen und Zentren."
Zahlreiche Enpässe
Aussagen, die Polo Gómez, alias Yolanda, in Frage stellt. Er kenne zahlreiche Fälle von Infizierten, die ihre Medikamente nicht pünktlich bekämen, die von Ärzten abgewiesen werden, weil die Medikamente ausgegangen sind, oder die einfach auf andere Medikamente gesetzt würden. Offen darüber reden will allerdings kaum einer der Betroffenen. Viele hätten Angst, aus den Programmen zu fliegen, sagt Gómez und hebt entschuldigend die Schultern. Aber ein Arzt, der in einem staatlichen Aids-Zentrum arbeitet, bestätigt, dass es immer wieder zu Versorgungsengpässen kommt.
An dem kühlen Sonnabend am Engel-Monument in Mexiko-Stadt sind nicht nur die Drag Queens mit sexueller Aufklärung beschäftigt. Die Nichtregierungsorganisation Cappsida bietet HIV-Schnelltests an. In einem Zelt hat Krankenschwester Yuri Garcia am Vormittag sechs jungen Frauen und Männern eine Speichelprobe abgenommen. 20 Minuten später stehen die Ergebnisse in sechs Reagenzgläschen vor ihr. Eines davon hat sich eingefärbt.
"Wir haben einen positiven Fall", sagt sie routiniert. "Der Betroffene weiß es nur noch nicht."
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UN-Zahlen
Weltweit: 27 Jahre nach Ausbruch hat sich die Epidemie auf einem erschreckend hohen Niveau stabilisiert. Nach dem jüngsten Bericht des Aids-Programms der Vereinten Nationen (UN-Aids) waren Ende 2007 weltweit 33 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert. Vergangenes Jahr starben rund 5 700 Menschen pro Tag an der Krankheit. Zugleich steckten sich täglich 7 500 Menschen an.
Afrika: Nach wie vor ist Schwarzafrika mit Abstand die am härtesten betroffene Region. Dort leben 22,5 Millionen (67 Prozent) aller HIV-Infizierten.
Europa/Asien: Alarmierend ist die Ausbreitung der Epidemie in Osteuropa und Zentralasien. Seit 2001 haben sich dort die Infektionen auf 1,6 Millionen Fälle fast verdreifacht.
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Foto: Zwei Drag Queens führen auf einer Straße in Mexiko-Stadt den Kondomgebrauch vor.
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